Female Health: Relevanz geschlechtersensibler Medizin
Welche Vorteile geschlechtssensible Medizin für Ihre Patient:innen hat.
Die herkömmlichen Geschlechterrollen sowie die damit verbundenen traditionellen Erwartungen werden derzeit in allen Bereichen der Gesellschaft intensiv diskutiert. Dabei kristallisiert sich immer mehr heraus, dass es eine große Bandbreite an individuellen Ausprägungen und Identitäten gibt, die auch im täglichen Leben berücksichtigt werden müssen.
Diese Erkenntnis hat auch Auswirkungen auf die Medizin und Gesundheitsversorgung, die die Relevanz unterschiedlicher Bedürfnisse und körperlicher Voraussetzungen in der Versorgung bislang kaum berücksichtigt hat.
So lag der Fokus in der medizinischen Forschung und Lehre lange Zeit auf männlichen Patienten. Aufmerksamkeit für dieses Thema lieferte dabei erstmals die 1980 veröffentlichte „Framingham Heart Study“.
Diese Langzeitstudie zur Erforschung der Ursachen von Herzerkrankungen startete 1948 in den USA, aber erst in den 1980er Jahren stellten die Forscher signifikante Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Herzinfarktpatient:innen fest.
Die Ergebnisse zeigten, dass Frauen häufiger als Männer eine stumme Form des Herzinfarkts durchliefen, bei der die typischen Symptome wie Schmerzen in der Brust nicht oder nur schwach ausgeprägt waren.
Heute weiß man sicher: Ein Herzinfarkt führt bei Frauen zu anderen Symptomen als bei Männern. Es kommt hier nicht zu klar definierbaren stechenden Schmerzen in der Brust, sondern unspezifischeren Symptomen wie starken Kopfschmerzen, Übelkeit, Atemnot oder Schmerzen im Oberbauch.
Solche geschlechtsspezifischen unterschiedlichen Krankheitsverläufe sind vielen Menschen und auch Mediziner:innen im (Praxis-)Alltag nach wie vor nicht ausreichend bewusst - mit fatalen Folgen.
Für Frauen kann das im schlimmsten Fall tödlich enden, da ihre Symptome nicht korrekt gedeutet und/oder zu hohe Medikamentendosen verschrieben werden, die auf den männlichen Organismus ausgerichtet sind.
Daher bedarf es einer geschlechtersensiblen Medizin, die bereits im Studium auf diese Unterschiede eingeht und sie angehenden Ärztinnen und Ärzten vermittelt.
Geschlechtersensibilität in der universitären Lehre: Meist Fehlanzeige
Wie es um die Berücksichtigung der Geschlechtersensibilität in der medizinischen Lehre steht, hat im Mai 2020 eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen der Berliner Charité in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Ärztinnenbund untersucht.
Sie legten dazu dem Bundesgesundheitsministerium ein Gutachten vor, das die Defizite bei der geschlechtsspezifischen Lehre in den deutschen medizinischen Fakultäten und anderen Institutionen der Lehre für Krankenpflege und Physiotherapie unterstreicht.
Das Ergebnis: Aktuell spielt Geschlechtersensibilität im Studium der Humanmedizin noch keine große Rolle – etwa zwei Drittel der Befragten gab an, soziokulturelle Geschlechterunterschiede wären gar nicht oder überwiegend nicht integriert.
Doch es gibt auch Universitäten, die sich im Rahmen ihres Medizinstudienganges bereits des Themas angenommen haben.
So auch die Universität Greifswald und dessen studentischer Referent für Gleichstellung und Diversität der Fachschaft Humanmedizin an der Universitätsmedizin Greifswald, Sebastian Paschen.
Im folgenden Interview sprechen wir mit ihm zum Thema geschlechtersensible Medizin:
Experteninterview mit Sebastian Paschen von der Universität Greifswald
Jameda: Hallo Herr Paschen, vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen für unser Interview. Wie kam es denn zur Entstehung des Projektes „Geschlecht in der Medizin“.
Sebastian Paschen: In meinem zweiten Semester kam ich über meine Tätigkeit als Universitätsvertreter in einem Berufsverband von Ärzt:innen in Kontakt mit anderen Medizinstudierenden und nahm dort an einem Workshop mit dem Thema „Geschlecht in der Medizin“ teil.
Durch den Austausch in diesem Seminar fand ich heraus, dass das Thema tatsächlich an keiner der Universitäten zu dem Zeitpunkt berücksichtigt wurde. Daraus entstand bei mir, einem Freund und einer Kommilitonin die Idee, dass wir hier aktiv werden müssen.
So kam der Stein ins Rollen und im Mai 2022 gründeten wir zusammen mit der Bundesvertretung der Medizinstudierenden, dem bvmd, das nationale Projekt „Geschlecht in der Medizin“.
Jameda: Das klingt nach einer sehr spannenden Entstehungsgeschichte. Warum ist dieses Thema denn so wichtig?
SP: Es ist ein alltägliches Thema. Die meisten Ärzt:innen behandeln Männer und Frauen. Daher erschreckt es mich, dass Geschlechtersensibilität in der Medizin bislang kein Thema war.
Schließlich wird damit die Hälfte der Weltbevölkerung bspw. in der Forschung ausgeklammert. Doch nicht nur das biologische Geschlecht hat Einfluss auf das Krankheitserleben eines Menschen, auch das soziale Geschlecht und mit dem Geschlecht verbundene gesellschaftliche Erwartungen.
Ebenso wird die Behandlung von Menschen, die inter oder trans sind, im Medizinstudium nicht berücksichtigt. Dabei sind Behandlungsmethoden wie Hormontherapien oder geschlechtsangleichende Maßnahmen wichtige Themen.
Jameda: Welche Probleme entstehen durch die aktuelle Geschlechtsunsensibilität?
SP: Das größte Problem ist die nicht ausreichende Versorgung von Patientinnen. Wenn eine Frau in die Notaufnahme kommt und ihre Symptome nicht eingeordnet werden können, weil sie unbekannt sind.
Frauenspezifische Symptome werden im Studium nicht gelehrt, wie beim oben erwähnten Thema Herzinfarkt. Bei Frauen treten hier eher unspezifische Schmerzen auf wie Kiefer- oder Bauchschmerzen.
Wenn dies nicht bekannt ist, kann Hilfe zu spät kommen. Auch der Schlaganfall verläuft bei Männern und Frauen anders. Eine Frau reagiert eher mit Übelkeit und Erbrechen, Männer eher mit Sprachunfähigkeit.
Jameda: Gibt es noch andere Beispiele?
SP: Ja, bei psychiatrischen Erkrankungen lernt man im Studium vorrangig frauenspezifische Symptome wie Abgeschlagenheit oder Interessensverlust. Dabei reagieren Männer hier eher aggressiv und mit Suchtverhalten.
Auch Männer können dann schnell falsch behandelt und eine Depression übersehen werden. Ein weiteres Beispiel ist die Gabe der richtigen Medikamentendosis: In der Regel werden Medikamente an Männern erforscht, aber geschlechtsspezifisch verstoffwechselt.
Dosen, die für Männer konzipiert wurden, können bei Frauen unnötige Überdosierungen verursachen oder sogar zu unerwünschten Nebenwirkungen führen.
Jameda: Was muss sich ändern? Was können Ärzt:innen und Patientinnen tun?
SP: An erster Stelle müssen die Ärzt:innen von morgen sensibler ausgebildet werden. Die Lehre muss hier ansetzen. Bereits praktizierende Ärzt:innen sollten sich in diesem Thema weiterbilden und sich selbstständig darüber informieren, da noch nicht viel Weiterbildungsmaterial zur Verfügung steht. Hier ist viel Eigeninitiative gefragt.
Auch Patientinnen können mehr tun. Sie sollten offen mit ihren behandelnden Ärzt:innen sprechen und somit das Thema Geschlechtssensibilität in die Praxisrealität holen.
Fragen Sie nach, ob ihre Ärztin bzw. Arzt sich mit geschlechterunterschiedlichen Symptomen und deren Behandlung auseinandergesetzt hat und ob die verschriebene Medikamentendosis für Frauen und/oder Männer konzipiert wurde.
All das wird helfen, diese wichtige Thematik in den Praxisalltag und alle Behandlungsformen zu bringen.
Jameda: Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?
SP: Meine Hoffnung ist, dass sich unsere Arbeit in den nächsten Jahren auszahlt und dass angestoßene Projekte weiterlaufen. Wichtig wäre mir, dass nachkommende Studierende am Thema dranbleiben.
Am besten sollten wir aber in 10 Jahren gar nicht mehr über das Thema sprechen müssen, da es selbstverständlich geworden ist. Das wäre mein größter Wunsch.
Der nächste Schritt und das finale Ziel ist aus meiner Sicht eine individualisierte Medizin, die auch Herkunft, Religion und kulturelle Aspekte berücksichtigt.
Jameda: Vielen Dank für diese interessanten Einblicke in das Thema. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg mit dem Projekt und freuen uns, dass wir hierfür Aufmerksamkeit schaffen können.
Sie möchten mehr über das Thema „Geschlecht in der Medizin“ erfahren?
Um Ärzt:innen und Patient:innen für den Gender Health Gap und mögliche Folgen zu sensibilisieren, veranstalten wir am 17. März 2023 um 16 Uhr ein Webinar zum Thema „Gender Health Gap: Warum Männer und Frauen eben nicht gleich sind“.
Gemeinsam mit uns diskutieren Dr. Claudia Kanitz. und Sebastian Paschen darüber, was sich im Gesundheitssystem konkret verändern muss, um eine angemessene Versorgung aller Geschlechter zu gewährleisten.
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