"Ein integrativer Ansatz kann die Grenzen der Schulmedizin überwinden"
jameda: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Naturheilkunde in der heutigen Gesundheitsversorgung?
KMD Kukhyun Yun: In Deutschland arbeiten Naturheilkunde und Schulmedizin zunehmend zusammen, um integrative Gesundheitslösungen anzubieten, die das Beste aus beiden Welten vereinen. Diese integrativen Ansätze werden immer beliebter, da sie darauf abzielen, individuelle Patientenbedürfnisse zu erfüllen und ganzheitliche Heilungsstrategien zu fördern. Allerdings befinden sich diese Bemühungen noch in einem frühen Stadium, sodass es noch viel Forschung und Zeit bedarf, bis Patienten wirklich von diesen Ansätzen profitieren können.
jameda: In welchen Bereichen sehen Sie die größten Stärken der alternativen Medizin im Vergleich zur Schulmedizin? Und umgekehrt?
KMD Kukhyun Yun: Bei meinen Patientinnen und Patienten beobachte ich häufig die verbreitete Meinung, dass alternative Medizin insbesondere durch ihren ganzheitlichen Ansatz, Prävention und nebenwirkungsarme Behandlungen überzeugt, während die Schulmedizin vor allem in der Notfall- und Akutversorgung, der Spezialisierung und ihrer wissenschaftlichen Basis ihre Stärken hat. Diese Sichtweise stellt jedoch eine Vereinfachung dar, die nicht alle Facetten und Entwicklungen beider Bereiche berücksichtigt und sogar die Wahl der passenden Behandlung für die Patienten beeinträchtigen kann. Als niedergelassener Arzt der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) im Herkunftsland der TCM, der während seines Studiums sowohl die TCM als auch Kenntnisse in der Schulmedizin erworben hat, möchte ich einige Missverständnisse in dieser Betrachtungsweise aufklären.
Die Fähigkeit der Schulmedizin, durch ihre Kompetenz in der Notfallversorgung und durch standardisierte Verfahren die Behandlungskosten zu senken, ist ein großer Vorteil. Tatsächlich bietet die Schulmedizin hochspezialisierte Behandlungen für eine Vielzahl von Erkrankungen an. Jedoch bietet z.B. die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) in Ländern, wo sie fest etabliert ist, hochspezialisierte Behandlungsoptionen wie beispielsweise spezialisierte TCM-Kliniken für Dermatologie, Rehabilitation nach Verkehrsunfällen oder Psychiatrie, die gezielt die einzigartigen Stärken der TCM nutzen. Außerdem ist es wichtig zu betonen, dass viele Bereiche der alternativen Medizin eine fundierte wissenschaftliche Anerkennung erfahren haben. Allerdings muss man auch erkennen, dass nicht jede Behandlungsmethode innerhalb der alternativen Medizin zwangsläufig nebenwirkungsarm ist. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit einer nuancierten Betrachtung jeder einzelnen Therapieform.
jameda: Können Sie spezifische Bereiche oder Situationen nennen, in denen Sie die Grenzen der Schulmedizin erkennen?
KMD Kukhyun Yun: Ja, bestimmte Bereiche und Situationen zeigen deutlich die Grenzen der Schulmedizin auf. Zum Beispiel behandeln wir regelmäßig Patienten mit Blasenentzündungen, bei denen herkömmliche Antibiotika nicht mehr wirksam sind. Oder wir sehen Eltern, die ihre zehn Monate alten Babys mit Neurodermitis zu uns bringen, da sie keine Kortisonbehandlung wünschen. Nach Operationen bei Patienten mit Endometriose oder Bandscheibenvorfällen können leider erneut Schmerzen auftreten, was die Grenzen der schulmedizinischen Therapie aufzeigt. Zudem kommen Patienten mit familiärer Vorbelastung für Herzstillstand und bestehenden Symptomen zu uns, bei denen umfassende Untersuchungen in der Schulmedizin keine Probleme feststellen können. Insgesamt sind Bereiche wie Unverträglichkeiten gegen Schmerzmittel, therapieresistente Fälle und die Prävention oder Behandlung von Rezidiven nach Operationen typische Gebiete, in denen die Grenzen der Schulmedizin besonders deutlich werden.
jameda: Was ist Ihrer Meinung nach der wichtigste Schritt, um die Grenzen der Schulmedizin zu überwinden?
KMD Kukhyun Yun: Um die Grenzen der Schulmedizin zu überwinden, ist es meiner Meinung nach entscheidend, einen integrativen Ansatz zu verfolgen, der sowohl die Fortschritte der modernen medizinischen Wissenschaft als auch die Einsichten aus der alternativen Heilkunde miteinander verbindet. Ein besonders wichtiger, jedoch anspruchsvoller Aspekt dabei ist die Notwendigkeit einer offenen Einstellung gegenüber neuen Ideen und Technologien, verbunden mit der Bereitschaft, etablierte Behandlungsmethoden kritisch zu beleuchten und gegebenenfalls zu erweitern. Diese Herausforderung sehe ich oft bei Therapeutinnen und Therapeuten, die sich durch die ausschließliche Fokussierung auf eine Medizinrichtung – sei es die Schulmedizin oder die Naturheilkunde – in ihrer Perspektive beschränken. Daher ist es von großer Bedeutung, interdisziplinäre Forschung und Bildung zu fördern, um ein ganzheitlicheres Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu entwickeln, das sowohl physische als auch psychische, soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt.
jameda: Wie gehen Sie mit Skepsis oder Widerstand von Patienten gegenüber alternativen Behandlungsmethoden um?
KMD Kukhyun Yun: In meiner Praxis habe ich beobachtet, dass die anfängliche Skepsis vieler Patienten bereits nach dem ersten Beratungsgespräch abnimmt. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass ich die von anderen medizinischen Einrichtungen erhaltenen Befunde aus einer integrativen Sichtweise heraus erkläre. Beispielsweise, wenn Patienten von unterschiedlichen Fachärzten verschiedene Diagnosen bekommen haben, biete ich eine objektive und umfassende Erklärung für diese Diskrepanzen an. Dies fördert das Verständnis und die Akzeptanz alternativer Behandlungsmethoden. Besonders im Rahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) ermöglicht es mir, jeden Patienten als einzigartiges Individuum zu betrachten und ganzheitlich zu diagnostizieren. Diese Vorgehensweise erlaubt es, häufig von der Schulmedizin als ungeklärt klassifizierte Beschwerden zu erklären und die Behandlung individuell anzupassen. Dieser Prozess der Diagnose und Behandlung stärkt das Vertrauen, da die Patienten spüren, dass ihre individuellen Bedürfnisse und ihre besondere Situation verstanden und berücksichtigt werden. Auch die Integration von evidenzbasierter Medizin, exemplarisch durch Studien der Cochrane Library, ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Praxis. Durch den Einsatz wissenschaftlich fundierter Behandlungsmethoden und das Bereitstellen klarer, evidenzbasierter Informationen kann ich meine Patienten umfassend über die Vorteile alternativer Behandlungsansätze aufklären. Dies stärkt das Vertrauen in die empfohlenen Methoden und trägt dazu bei, Skepsis und Widerstände zu überwinden.
jameda: Haben Sie eine Botschaft für Personen, die sich zwischen schulmedizinischen und alternativen Behandlungsmethoden entscheiden müssen?
KMD Kukhyun Yun: Bei der Wahl zwischen schulmedizinischen und alternativen Behandlungsmethoden ist es wichtig, gut informiert zu sein und eine offene Sichtweise zu haben. Unterschiedliche Gesundheitsprobleme erfordern unterschiedliche Ansätze, und manchmal ist eine Kombination aus beidem am effektivsten, wie bei Tinnitus oder Trigeminusneuralgie.
Meine Empfehlungen sind:
Informieren Sie sich gründlich: Erforschen Sie alle Behandlungsmöglichkeiten und achten Sie auf wissenschaftliche Belege für deren Wirksamkeit und Sicherheit.
Holen Sie mehrere Meinungen ein: Ein Therapeut mit Erfahrung in integrativer Medizin kann wertvolle neue Perspektiven bieten.
Abwägen von Risiken und Nebenwirkungen: Wählen Sie die Behandlung, bei der die Vorteile die Risiken überwiegen. Eine gut informierte Entscheidung ist der Schlüssel. Berücksichtigen Sie alle Optionen sorgfältig.
jameda: Können Sie ein Beispiel teilen, bei dem die Kombination aus Schulmedizin und alternativer Medizin zu einem bemerkenswerten Erfolg geführt hat?
KMD Kukhyun Yun: Die Kombination aus Schulmedizin und Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) kann in bestimmten Fällen zu bemerkenswerten Erfolgen führen. Ein Beispiel dafür ist die Behandlung von Trigeminusneuralgie, einer sehr schmerzhaften Erkrankung, die das Gesicht betrifft. In der Praxis zeigt sich, dass die Schulmedizin mit Medikamenten wie Carbamazepin in vielen Fällen eine erste Linderung der akuten Schmerzen ermöglichen kann. Diese Medikamente sind oft der erste Schritt in der Behandlung, da sie relativ schnell wirken und den Patienten eine erste Erleichterung verschaffen. Allerdings können in einigen Fällen die Nebenwirkungen dieser Medikamente oder eine unzureichende Schmerzlinderung die Lebensqualität der Patienten beeinträchtigen. Hier bietet die Einbindung von alternativen Behandlungsmethoden, wie der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), eine wertvolle Ergänzung. Die TCM kann durch Ansätze wie Akupunktur oder Kräutermedizin dazu beitragen, eine schnelle Schmerzlinderung zu erreichen, die durch schulmedizinische Behandlungen allein nicht vollständig erreicht wurde, und die zugrundeliegenden Ursachen der Trigeminusneuralgie anzugehen. Ein weiteres Beispiel ist der Bereich der Reproduktionsmedizin, insbesondere bei Paaren mit Kinderwunsch, die keinen anderen Weg haben, sondern nur die künstliche Befruchtung als Möglichkeit. In solchen Fällen übernimmt unsere Klinik als begleitende Praxis die Vorbereitung, bevor die künstliche Befruchtung beginnt. Für weibliche Patienten bedeutet das die Idealisierung der Gebärmutterumgebung, während für männliche Patienten die Verbesserung der Spermienqualität im Vordergrund steht. Dadurch soll die Qualität der Embryonen erhöht werden. Darüber hinaus übernehmen wir die Betreuung von Schwangerschaften nach der Einnistung, insbesondere bei Patienten, die an Endometriose leiden oder wiederholt Fehlgeburten hatten. Dies stellt eine Situation dar, in der Schulmedizin und Alternativmedizin einander perfekt ergänzen können.
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